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Eduard Mörike: Im Frühling – 017


Den vor einigen Tage schon vermerkten poetischen Gebrauchsempfehlungen des Lyrik-Freundes Johannes Hermann folgend schlage ich Ihnen vor, das Gedicht auswendig zu lernen und bei der Rezitation in Ihrem Umfeld selbst Frühlingsgefühle zu wecken. In der Zeit nach Corona könnten wir dann einen öffentlichen Lyrikabend veranstalten und die in der coronalen Abgeschiedenheit angeeigneten Gedichte uns gegenseitig vortragen!

Im Frühling

von Eduard Mörike

Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel:
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
Ach, sag mir, all-einzige Liebe,
Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus.
Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen,

Sehnend,
Sich dehnend
In Lieben und Hoffen.
Frühling, was bist du gewillt?
Wann werd ich gestillt?
Die Wolke seh ich wandeln und den Fluß,
Es dringt der Sonne goldner Kuß
Mir tief bis ins Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun, als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.

Ich denke dies und denke das,
Ich sehne mich, und weiß nicht recht, nach was:
Halb ist es Lust, halb ist es Klage;
Mein Herz, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?

-Alte unnennbare Tage!

(aus: Der neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neu herausgegeben und aktualisiert von Karl Otto Conrady. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 2. Auflage 2001, S. 417f.)

Mit herzlichen Grüßen
Ihr

Edwin Ernst Weber