Kultur & Archiv
Jean Gebser: Und es will Vieles werden – 039
26.04.2020
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
auf Empfehlung von Diakon Werner Knubben will ich Ihnen heute den deutsch-schweizerischen Kulturphilosophen und Dichter Jean Gebser (1905-1973) und sein Gedicht „Und es will Vieles werden“ vorstellen. Vor allem mit seinem 1949 und 1953 erschienenen zweibändigen Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“ gilt Gebser als Begründer einer kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstseinsgeschichte. Er erkennt eine reiche Fülle menschlicher Bewusstseinskräfte, die nicht auf Verstand und Vernunft reduziert werden dürften. Neben dem verstandesmäßigen Begreifen und analytischen Denken gebe es einen magischen Weltbezug und mythische Weltdeutungen. In einem durch Krisen ausgelösten Sprung aus der Zivilisation, wie wir sie kennen, sieht Gebser die Chance für die Entwicklung eines Integralen Bewusstseins. In seinem Gedicht schildert er das aus dem Vertrauen erwachsende, erst zu erahnende Heraufziehen eines neuen Bewusstseins, das Himmel und Erde heilend verbindet.
Und es will Vieles werden
von Jean Gebser
Wir gehen immer verloren,
wenn uns das Denken befällt,
und werden wiedergeboren,
wenn wir uns ahnend der Welt anvertrauen
und treiben, wie Wolken in hellem Wind.
Und alle Grenzen, die bleiben,
sind ferner als Himmel sind.
Und es will Vieles werden, doch wir begreifen es kaum.
Wie lange sind wir der Erden Ängstliche noch im Traum?
Fragwürdige noch wie lange,
jetzt, da sich schon alles besinnt,
da das, was einstens so bange,
schon klarer vorüberrinnt?
Dass uns ein Sanftes geschähe,
wenn uns der Himmel berührt,
wenn seine atmende Nähe
uns ganz zum Hiersein verführt.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Edwin Ernst Weber
Werner Knubben hat das Gedicht auch selbst vertont: