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Psalm 22: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! – 023


Psalm 22


Mein Gott,
mein Gott,
warum hast du mich verlassen!
Warum bist du fern
meinen Schreien und Klagen, meinen Aufschreien,
meiner Sprachlosigkeit!
Mein Gott!
Ich schreie! wenn es hell ist, und du hörst mich nicht,
wenn es dunkel ist, und du antwortest mir nicht.
 
Und doch bist du der Heilige, der Lebendige,
der über den Liedern Israels wohnt.
Auf dich setzten unsere Väter ihre Hoffnung.
Sie hofften auf dich und kamen davon.
Zu dir hin schrien sie und wurden befreit.
Dir trauten sie und wurden nicht beschämt.
 
Doch ich, ich bin ein Wurm.
Kein Mensch.
Die Menschen – lachen mich aus.
Das Volk – verachtet mich.
Alle, die mich sehen, lachen,
entrüsten sich, lassen sich aus:
der soll seine Sorgen auf Gott abschieben!
Sein Gott soll ihn herausreißen!
Er soll ihn befreien, wenn er ihm zusagt!
 
Ach,
du bist es doch, der mich
aus dem Bauch meiner Mutter gezogen hat! mich
daheimsein ließ an der der Brust der Mutter.
Vom Licht der Welt an bin ich auf deinem Boden
Vom Bauch der Mutter an
bist du mein Gott.
 
Sei nicht so fern!
Ich liege im Dreck.
Keiner hilft mir.
Sie haben mich umzingelt.
Der Mob hat mich eingekreist.
Sie haben ihre Mäuler aufgerissen.
Sie sind schlimmer als Bestien.
Und ich – bin wie Wasser,
hingeschüttet.
Meine Knochen sind wie aufgelöst –
Mein Herz?
Ist in mir zerflossen. Wie Wachs.
Meine Kehle? Ausgetrocknet, eine Scherbe.
Die Zunge klebt mir am Gaumen.
Du hast mich in den Staub des Todes gelegt!
Hundevolk umlagert mich, eine ganze Meute.
Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt.
Ich kann all meine Knochen zählen.
Ihr Blick herrscht über mich.
Sie teilen meine Kleider unter sich auf,
werfen das Los über meine Sachen.
 
Und du, Herr!
Hilf doch!
Schreite ein!
Du,
meine Stärke,
komm jetzt!
 
Rette mein Leben vor ihrer Mordlust, das einzige,
das ich habe, vor der Gewalt dieser Hände!
 
Rette mich,
vor dieser Todesmaschine,
vor dieser Zerstörungswut,
rette mich!
 
Ich werde deinen Namen weitersagen!
Vor dem Rest der Welt dich preisen!
 
Die ihr von Gott wißt, rühmt ihn!
Alle ihr von Jakob her, preist ihn!
Laßt euch erschüttern, ihr Nachkommen Israels!
 
Denn er hat das Elend des Armen nicht übersehen.
Er hat sich nicht vor ihm versteckt.
Er hat auf sein Schreien gehört.
 
Vor allen will ich nun deine Treue preisen.
Vor den Seinen will ich nun tun,
was ich versprochen habe:
die Armen sollen essen und satt werden.
Den Herrn sollen finden, die ihn suchen,
und aufleben soll euer Herz,
für immer!
 
(aus: Warum toben die Heiden und andere Psalmen. Aus dem Hebräischen und mit einem Nachwort von Arnold Stadler. Salzburg und Wien: Residenz Verlag 1995, S. 7-9)
 
Video: Felix Mendelssohn Psalm 22, op 78 no 3 "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Video: Ernst Friedrich Richter: Mein Gott, warum hast du mich verlassen Ps 22,2

 
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Edwin Ernst Weber